In mehreren Städten im Südirak sind erneut Kämpfe ausgebrochen, verursacht durch wachsende Spannungen zwischen der führenden Schiitenpartei ISCI und rivalisierenden schiitischen Parteien und Milizen. Die Islamic Supreme Council of Iraq (ISCI) ist die wichtigste schiitische Partei in der irakischen Regierung von Ministerpräsident Nouri al- Maliki. Die US-Truppen stellen sich offen auf die Seite des ISCI.
Das amerikanische Militär und die ISCI haben es besonders auf Mitglieder der schiitisch-fundamentalistischen Sadristen-Bewegung und deren Miliz Mahdi-Armee abgesehen. Letztere hat sich vor kurzem mit dem Prediger Moktada al-Sadr überworfen, weil dieser inzwischen mit der Besatzung zusammenarbeitet. Er hat es aufgegeben, sich dem Herrschaftsanspruch des ISCI über die schiitische Bevölkerung entgegenzustellen.
Im vergangenen August verbot Sadr Mitgliedern seiner Organisation, gegen die aggressiven Operationen der US-Kräfte und des irakischen Sicherheitsapparats Widerstand zu leisten. Diese nutzten den Waffenstillstand aus, um mit beispielloser Brutalität gegen die Sadristen vorzugehen. In Bagdad und den für Schiiten heiligen Städten Nadschaf und Kerbela, die vom ISCI kontrolliert werden, wurden Hunderte, wenn nicht Tausende Mitglieder der Mahdi-Milizen getötet oder festgenommen.
Am 23. Februar ordnete Sadr die Verlängerung des Waffenstillstands an. Diese Entscheidung scheint von einem bedeutenden Teil seiner Bewegung nicht akzeptiert zu werden. Die britische Armee erlitt am 29. Februar den ersten tödlichen Verlust in diesem Jahr durch einen Raketenangriff, der sich gegen den britischen Stützpunkt am Flughafen von Basra richtete und vermutlich von Sadr-Milizen ausging. Auch hinter dem Angriff vom 17. März werden Sadr-Milizen vermutet, als ein US-Stützpunkt am Rande von Kut mit Mörsergranaten angegriffen wurde. Am Dienstag tötete ein Sprengsatz (IED) in der Nähe von Diwaniyya einen amerikanischen Soldaten und verwundete zwei weitere. Am folgenden Tag wurden bei einem Raketenangriff auf ihren Stützpunkt bei Nasiriyya drei US-Soldaten getötet und zwei weitere verwundet.
Amerikanische Sondereinheiten, ISCI-Polizeikräfte und Einheiten der irakischen Armee haben seit Dienstag mit einem größeren Gegenschlag reagiert. Sie versuchen die Mahdi-Armee aus ihren Hochburgen in den Arbeitervierteln von Kut zu vertreiben. Mindestens dreizehn Personen sollen getötet worden sein. Ein Polizeikommandeur sagte gegenüber Reuters: "Wir haben vier Stadtteile gesäubert und eine Gruppe von Kämpfern der Mahdi-Armee verhaftet, darunter auch einen hohen Anführer." Ein fünfter Stadtteil sei "abgeriegelt", wie er angab. Milizionäre feuerten elf Katjuscha-Raketen auf den US-Stützpunkt aus einem Stadtviertel ab, das sich angeblich unter der Kontrolle der Polizei befinden soll. Als Vergeltung schossen amerikanische Truppen Granaten in das Wohngebiet.
Am Wochenende kam es in Kut zu weiteren Gefechten. Agenturberichten zufolge sollen bei den Polizeirazzien Dutzende Sadr-Anhänger festgenommen worden sein.
Sadr gab am Donnerstag eine Erklärung heraus, in der er den Widerstand der Milizen verurteilte und die Einhaltung des Waffenstillstands forderte. Es ist zweifelhaft, ob seine Befehle befolgt werden. Peter Harling von der International Crisis Group, die im Februar eine Studie über die Konflikte innerhalb der Sadr-Bewegung veröffentlicht hatte, sagte gegenüber Reuters: "An der Basis der Sadristen gibt es eine enorme Frustration." Harling stellte fest, dass viele Sadristen davon ausgehen, dass die US-Armee den ISCI beim Vernichtungskampf gegen sie unterstützt, und dass ihnen Sadrs Waffenstillstand wie gerufen kommt.
Der Konflikt zwischen dem ISCI und der Sadr-Bewegung hat tiefe Wurzeln. Der ISCI repräsentiert eine Fraktion der klerikalen und besitzenden Elite der Schiiten, die sich nach der Unterdrückung der fundamentalistischen schiitischen Bewegung durch Saddam Husseins Baath-Regime in den 1980er Jahren dem Iran zugewandt hatte, um von dort Unterstützung im Kampf um politischen Einfluss im Irak zu bekommen. Die Badr-Miliz des ISCI kämpfte im Iran-Irak-Krieg von 1980-1988 an der Seite der iranischen Truppen gegen die irakische Armee. Nach der US-Invasion des Irak im Jahre 2003 arbeitete der ISCI umfassend mit der Besatzungsmacht zusammen und hat seitdem in jeder Regierung in Bagdad gesessen.
Der Sadr-Flügel des schiitischen Establishments kämpfte dagegen im Iran-Irak-Krieg auf der Grundlage von arabischem Nationalismus für einen Sieg des Irak. Ursprünglich lehnte er jede Beteiligung an den Marionettenregierungen der Amerikaner in Bagdad ab. 2004 organisierte er einen kurzlebigen Aufstand gegen die amerikanischen Besatzer und die irakische "Übergangsregierung" des Ex-Baathisten Iyad Alawi. Nach schweren Verlusten akzeptierte Moktada al Sadr einen Waffenstillstand und gab im September 2004 den bewaffneten Widerstand auf. Seine Bewegung tat sich mit dem ISCI und der Dawa-Partei zusammen, um die schiitische Mehrheit in den Parlamenten zu sichern, die seit 2005 gewählt wurden.
Zwei Fragen trennen den ISCI aber immer noch scharf von den Sadristen. Beide Parteien stehen in einem Machtkampf um die Kontrolle über die beiden wichtigsten Heiligtümer der Schiiten in Kerbela und Nadschaf und über die enormen Einkommen, die die Spenden der Pilger aus aller Welt bringen. Die Sadristen wollen sich nicht damit abfinden, dass der in Iran geborene und vom ISCI unterstützte Ajatollah Ali al-Sistani die Kontrolle über die Städte ausübt. Sie glauben, wäre Sadrs Vater, Mohammed Sadeq Sadr, nicht 1999 vom Baath-Regime ermordet worden, dann würde der Sadr-Flügel der Geistlichkeit die Kontrolle ausüben. Im Verlauf des Aufstands der Sadristen von 2004 besetzte die Mahdi-Armee die Heiligtümer vorübergehend, musste sie aber nach den Bestimmungen des Waffenstillstands wieder zurückgeben.
Zweitens nehmen die beiden Tendenzen entgegen gesetzte Standpunkte zum irakischen Nationalstaat ein. Die Sadristen bestehen auf einem starken irakischen Nationalstaat. Der ISCI hingegen will den Irak in eine lose Föderation autonomer Regionen auflösen. Das nicht ausgesprochene Ziel des Regionalismus besteht darin, möglichst viel von den Einnahmen aus der Öl- und Gasförderung im schiitischen Südirak in die Hand der schiitischen Elite zu bekommen, anstatt sie an eine Zentralregierung abzuführen. Die Sadristen haben ihre wichtigste Basis in der schiitischen Bevölkerung von Bagdad und treten deswegen dafür ein, die alleinige Entscheidungsgewalt über die Öl- und Gaspolitik und über die Verteilung der Einnahmen dem Nationalstaat zu übertragen.
Nächsten Monat tritt ein im Oktober 2006 verabschiedetes Föderalismusgesetz in Kraft. Das Gesetz sieht Referenden vor, mit denen sich Provinzen zu "Regionen" zusammenschließen können. Das erklärte Ziel des ISCI ist, die neun Provinzen mit schiitischer Mehrheit im Süden des Landes zu einem autonomen Bundesstaat zusammenzufassen.
Dies ist natürlich für den ISCI nicht einfach. Bei den ersten Provinzwahlen unter US-Besatzung am 30. Januar 2005 gewannen der ISCI oder die Dawa-Partei in sieben der neun Provinzen die Mehrheit, hauptsächlich weil die Sadristen nicht organisiert an den Wahlen teilnahmen. Anhänger von Sadr errangen aber die Mehrheit in der arabischen Marschlandprovinz Maisan.
Ein noch größerer Rückschlag für den ISCI war in der Provinz Basra der Sieg der Fadhila, oder Islamische Tugendpartei, einer Abspaltung von den Sadristen. Basra verfügt über die größten Ölfelder und den einzigen Seehafen des Irak. Tendenzen in Fadhila sind dafür, Basra als eigene Region, getrennt vom übrigen Südirak, zu etablieren. Ohne Basra kann der ISCI seine Ambitionen vergessen, die Kontrolle über Kerbela und Nadschaf mit dem Reichtum der Ölindustrie zu verbinden.
Der ISCI hat nur wenige Optionen. Er kann seine Pläne bis nach den nächsten Provinzwahlen aufschieben und darauf hoffen, dann die Mehrheit in allen neun Provinzen zu erlangen. Das Provinzwahlgesetz des irakischen Parlaments vom vergangenen Monat hat den 1. Oktober 2008 als Datum für die nächsten Wahlen bestimmt.
Auf eine demokratische Abstimmung zu setzen ist allerdings problematisch. Es gibt verbreitete Unzufriedenheit mit dem ISCI wegen seiner Verbindungen zur US-Besatzung und wegen der katastrophalen Lebensbedingungen der schiitischen Massen. Die Sadristen werden an den nächsten Wahlen teilnehmen - mit oder ohne Moktada Sadrs Zustimmung - und könnten ohne weiteres nicht nur wieder in Maisan gewinnen, sondern auch in Provinzen wie al-Qadisiyya mit der Hauptstadt Diwaniyya, Dhi Qar mit der Hauptstadt Nasiriyya und Wasit mit der Hauptstadt Kut einen Sieg erringen. Es kann sein, dass Fadhila die Stadt Basra halten kann.
Die Alternative für den ISCI, die er auch tatsächlich zu verfolgen scheint, besteht darin, dass die Wahlen auf keinen Fall unter auch nur annähernd freien und fairen Bedingungen stattfinden sollen.
Am 25. Februar legte der irakische Vizepräsident und Führer des ISCI, Adel Abdul al Mahdi, im Präsidentschaftsrat sein Veto gegen das Provinzwahlgesetz ein, weil es der Zentralregierung zu große Vollmachten gegenüber den Provinzen einräume. Das Parlament muss das Gesetz nun am 18. März erneut debattieren. Vertreter der Sadristen in Bagdad haben mit einem Generalstreik gedroht, falls das Gesetz nicht in seiner ursprünglichen Fassung verabschiedet werde.
Politische Verwirrung und Spannungen und die Operationen in Kut in dieser Woche weisen auf Bestrebungen hin, die Sadristen im Südirak physisch in den Untergrund zu treiben. Es gibt auch Hinweise auf Versuche, die Sadristen und Fadhila in Basra und die Gewerkschaften auf den Ölfeldern und im Hafen, die mit Fadhila sympathisieren, zu zerschlagen.
ISCI-Vertreter haben in der vergangenen Woche täglich Demonstrationen in Basra organisiert, die Schritte "gegen kriminelle Banden und Milizen" verlangten. Gemeint sind die paramilitärischen Kräfte der Fadhila und Zellen der Mahdi-Armee. Die New York Times veröffentlichte am 13. März einen Artikel, in dem über militärische Operationen spekuliert wurde, um diesen Forderungen nachzukommen. Dabei sollten ISCI-dominierte Einheiten der irakischen Armee mit Unterstützung amerikanischer und britischer Truppen gegen diese Kräfte vorgehen.
Der Bericht der Times begann mit den Worten: "Mehrere hohe Vertreter des Irak sagten am Mittwoch, dass die irakische Regierung möglicherweise schon bald Truppen schicken werde, um die Kontrolle über den heruntergekommenen, aber wichtigen Hafen der Stadt von politisch organisierten Milizen zu übernehmen, die bisher eher durch Korruption und die Förderung von Terror aufgefallen sind, als durch ihre Fähigkeiten im Transportgewerbe."
Der stellvertretende irakische Ministerpräsident Barham Salih, ein kurdischer Verbündeter des ISCI, sagte auf einer Investorenkonferenz in Bagdad: "Wir brauchen eine sehr starke Militärpräsenz in der Stadt, um diese Milizen auszumerzen." Der Nationale Sicherheitsberater Mowaffak al-Rubaie, der Fadhila schon vergangenen Dezember eine militärische Intervention androhte, erklärte, Bagdad werde "eine Kampagne starten, uns von den schlechten Elementen zu befreien", und verurteilte "die Schwäche der lokalen Verwaltung".
Die Times nannte konkret eine "von einer Miliz kontrollierte Gewerkschaft" im Hafen Um Qasr in Basra, die angeblich "unterworfen" werden müsse. Rubaie warnte ausdrücklich den Fadhila-Gouverneur Mohammed al-Waili, den der ISCI schon seit Anfang 2007 aus dem Amt zu drängen sucht. Er sagte: "Wer sich uns in den Weg stellt, gegen den wird schnell, entschieden und ohne Gnade vorgegangen."